1956: Norddeutsche Meisterschaften im Rollkunstlaufen und Rolltanzen auf der zwei Jahre vorher fertiggestellten Rollkunstlaufarena am Bürgerpark. Vor voll besetzten Rängen übrigens. 2.500 Zuschauer an beiden Tagen verfolgten die spannenden Wettkämpfe, und die Polizei sah sich wegen des starken Andrangs sogar veranlasst, die Zufahrt zum neuen Stadion nur für die Teilnehmer und Wertungsrichter freizuhalten. So geschehen am 15. und 16. September 1956.
Für einen perfekten Ablauf hatte damals der Roll- und Schlittschuh-Club Bremerhaven (RSCB) gesorgt, einige Jahre später und – nun unter dem Namen ERC – bis heute eine der ersten Adressen dieser Sportart in Deutschland. Die Titel holten sich 1956 bei den Damen Rita Blumenberg (Hannover), bei den Herren Kurt Weilert (Berlin) vor dem zuvor vom RSCB zum ATSV Bremen 1860 gewechselten Bremerhavener Hans-Jürgen Schamberger, im Paarlauf die Hannoveraner Rita Blumenberg/Werner Mensching vor Rita Paucka/Peter Kwiet (Berlin), die sich dafür Gold im Rolltanz sicherten. Unter dem Publikum befanden sich drei ehemalige Weltmeister: Sigrid Knake/Günter Koch, die zuvor von Hannover nach Frankfurt gezogen waren und so den Weg zum norddeutschen Titel für Blumenberg/Mensching freigemacht hatten, dazu Irma Fischlein-Borchers.
Schon 1956 schnitten auch einige RSCB-Akteure hervorragend ab. Oda Thies hüpfte in der Meisterklasse vom sechsten Pflichtplatz noch durch eine glänzende Kür auf den vierten Rang vor, das Geschwisterpaar Karin und Gralf Bohnsack belegte in der zweithöchsten Leistungsklasse, den Senioren, den zweiten Platz im Rolltanz, und bei den Junioren-Herren gab es gleich einen dreifachen RSCB-Triumph: der 14-jährige Volker Thies, später fünfmal in Folge „Vize“ bei den deutschen und den Weltmeisterschaften, siegte vor Jürgen Kleist und Herbert Körber. 52 Jahre später: Wieder finden Norddeutsche Meisterschaften am Rande des Bremerhavener Bürgerparks statt. Ausrichter der Titelkämpfe vom 4. bis 6. Juli 2008 ist jetzt der Eis- und Rollsport-Club Bremerhaven, kurz ERC genannt. Dieser Club ist keinesfalls juristisch, wohl aber sportlich der Nachfolger des einst so überaus erfolgreichen RSCB, dessen Mitglieder sich mit „Eule“ zu begrüßen pflegten. Was sich außer dem Vereinsnamen sonst noch geändert hat?
Der Rollsportanlage wurde in diesem Jahr ein neues Outfit verpasst. Die Bahn selbst schrumpfte von bislang 25 mal 50 Metern auf das international gebräuchliche Maß 40 mal 20 Meter und erhielt eine für diesen Sport eine geradezu ideale Oberfläche – völlig eben und dennoch griffig. Der eigentliche Clou aber ist eine revolutionäre Veränderung: Die Lauffläche wurde endlich überdacht, und zwar so geschickt, dass man trotzdem vom 54 Jahre alten Turm, von dem aus die Musik und die Ansagen eingespielt werden, einen guten Einblick auf das sportliche Geschehen hat und von dem aus die Regie, wenn nötig, helfend eingreifen kann. Vor allem mit dem Dach ist für die Rollsportler ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen. Wie oft hatte ihnen das gerade an der Küste so „wendische“ Wetter einen Streich gespielt, wie oft mussten in der Vergangenheit Veranstaltungen unter- und sogar abgebrochen werden. Sogar vor den Norddeutschen 1956 klarte der bis dahin regenverhangene Wolkenhimmel erst in letzter Minute auf. Von einem solchen Schutz gegen Regen und allzu greller Sonneneinstrahlung sowie von einer so optimalen Lauffläche – Bedingungen, wie sie nun gegeben sind – hätte der Kunstlaufpionier Walter Lindner nicht zu träumen gewagt, als er im Kriegsjahr 1941 den späteren RSCB (bis 1947 noch Roll- und Schlittschuh-Verein Wesermünde) gründete.
Er fand auch bald eine gelehrige Schülerin: Änne Albrecht, die spätere Änne Butzke und Mutter von Michael Butzke, der es einmal zu fünf Weltmeistertiteln bringen sollte. Sie aber gewann 1943 bei den Damen die sogenannte Gaumeisterschaft. Anfangs hatte der Verein noch seine Heimstatt auf einer kleinen Anlage hinter dem Sportplatz des Geestemünder Sport-Clubs (GSC). 1954 endlich durften die Rollkunstläufer und die Rollhockeyspieler – diese Sportart ist inzwischen aus dem Angebot des Vereins gestrichen – in ihr neues, von der Stadt gebautes Domizil umziehen, in den fünfziger Jahren als schönste Rollkunstlaufarena in ganz Deutschland gerühmt. Auf dieser Anlage begann die Erfolgsgeschichte eigentlich erst so richtig. Der erste Aktive des RSCB, der sich auf der nationalen und vor allem internationalen Bühne bewährte, war Volker Thies: Er belegte in den sechziger Jahren fünfmal hintereinander den zweiten Platz sowohl bei den nationalen als auch bei den Weltmeisterschaften. Ihm folgte schon bald Astrid Bader, die Perfektionistin auf den K u n s t l a u f – Rollschuhen.
Sie war die Erste, die einen Welttitel in die Seestadt Bremerhaven holte, und das gleich viermal in Folge. Nach Ende ihrer aktiven Zeit und ihrer Heirat – sie heißt seitdem Astrid Hoßfeld-Bader – ist sie für ihren Verein als Trainerin tätig und hat in nunmehr über 35 Jahren bis in die Gegenwart hinein manchem ihrer Schützlinge zu nationalen und internationalen Ehren verholfen. Ihr erster Meisterschüler war Änne Butzkes Sohn Michael, den sie als kleinen Anfänger unter ihre Fittiche nahm und in der Folgezeit Schritt für Schritt bis in die Weltspitze führte, die er später souverän dominieren sollte: Gleich fünfmal gewann Michael Butzke neben diversen anderen Titeln die Weltmeisterschaft. Eine Erfolgsserie, die bislang kaum ein anderer Rollkunstläufer weltweit hingelegt hat. Zu dieser Zeit entwickelte sich mit Birgit Melchers eines der größten Talente dieser Zeit, sie wurde mit nur 14 Jahren Vierte der Weltmeisterschaften im Jahre 1983.
Michael Butzke, der inzwischen als Trainer in Verden Nachwuchstalente ausbildet, war zwar der bislang letzte Weltmeister aus Bremerhaven, aber die Seestadt brachte in den folgenden Jahren weitere Aktive heraus, die sich ebenfalls national und international bewährten. So das Paar Andreas Brinkmann/Kerstin Dohrmann, das viermal hintereinander bei den deutschen Titelkämpfen dem zweiten Platz belegte und sich einmal sogar bei den Europameisterschaften gegen stärkste Konkurrenz Rang drei sicherte. Andreas Brinkmann ist dem Verein weiterhin als Wertungsrichter verbunden, und Kerstin Behlen, geborene Dohrmann, hat das Talent an ihre Tochter weitergegeben, die fleißig beim ERC im Bürgerpark Pirouetten und Sprünge übt.
Nochmals zeigte sich, dass Talent sozusagen in der Familie liegt, an Astrid Hoßfelds Kindern Alexander und Constance. Alexander feierte seine größten Erfolge, als er 1994 und 1995 mit seiner Partnerin Pamela Schlechter den deutschen Paarlauftitel gewann und dazu international hervorragende Platzierungen erreichte. Auch in der Einzeldisziplin landete er national und international stets auf vorderen Plätzen. Zweimal Junioren-Europameister und 1997 wurde er in Dänemark sogar Vize-Europameister in der Pflicht. Ihm tat es seine kleine Schwester Constance nach. Schon als 13-Jährige belegte sie bei den Europameisterschaften in ihrer Leistungsklasse in der Kombination aus Pflicht, Kurzprogramm und Kür den dritten Rang. Zahlreiche Gold, Silber und Bronzemedaillen folgten in allen Altersklassen.
Der Höhepunkt war zweifelsohne der Vizeweltmeistertitel 2004 in der Pflicht. Ihre Bilanz: Zwanzigmal ergatterte sie bei Welt- und Europameisterschaften einen begehrten Platz auf dem Treppchen. Alle drei sind nach Ende ihrer Kunstlaufkarriere dem Verein eng verbunden geblieben.
Alexander führt den ERC inzwischen als 1. Vorsitzender, Pamela trainiert den Nachwuchs, und Constance bringt ihre Erfahrungen ein, wenn sie im Verein und für den Deutschen Rollsport- und Inline-Verband (DRIV) als Choreographin den Akteuren bei der Erarbeitung ihrer Küren beratend zur Seite steht. Nicht zu vergessen die Arbeit von Jutta Hauschild (vormals Maaß), einer ehemaligen Läuferin des RSCB in der nationalen Meisterklasse. Sie gründete Mitte der achtziger Jahre die Rollkunstlaufabteilung der Leher Turnerschaft (LTS) und bildet ihre Aktiven schwerpunktmäßig, vor allem aber auch erfolgreich in zwei Disziplinen aus: für Showwettbewerbe und neuerdings auch für das Solotanzen auf Rollen. Ein weiteres sportliches Standbein des Vereins ist Breitensport auf höchstem Niveau.
Seit 25 Jahren führt der ERC zur Weihnachtszeit in der Stadthalle unter dem Markennamen „Stars auf Rollen“ ein Weihnachtsmärchen auf. Bis zu 70 Mitwirkende – vom Kleinsten, der sich nur mühsam auf den Rollschuhen halten kann, bis zum leicht ergrauten Senior – präsentieren in einer Mischung aus Sport und Show jeweils ein bekanntes Märchen. Farbenfrohe Kostüme, optische Effekte und eine meisterliche Choreografie garantieren, dass diese Veranstaltung Jahr für Jahr stets mehrere tausend Besucher in die Halle lockt und begeistert.
Von 2004 bis 2019 wurde im ERC zudem Inline-Skater-Hockey gespielt, das dem Eishockey sehr nahekommt.
Hans W. Petersen im Juli 2008